Evgenij Kozlov

Das Leningrader Album


Die Entwicklung der Zeichnungen

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Atmosphäre

Das Album

Die Entwicklung der Zeichnungen

Das Hohelied des Verlangens



•••••••• Die Entwicklung der Zeichnungen ••••••••


Wir wissen nicht, ob sich bei dem jungen Künstler, der mit zwölf Jahren (also 1967) an der Schwelle zur Pubertät steht, äußere Zeichen für ein entschlossenes Vorgehen gegenüber dem anderen Geschlecht erkennen lassen - in seinen Zeichnungen manifestiert sich das Begehren auf höchst romantische Art. Es ist eine idealisierende Schwärmerei gepaart mit einem außergewöhnlichen Talent für dessen Umsetzung in reale Bilder.

1967

Die Zeichnungen haben zunächst den Charakter von Körperstudien. Allerdings möchte man vermuten, dass sie ohne Modelle entstanden sind, sondern die vormals bekleideten Frauenfiguren durch die Phantasie des Künsters mehr oder weniger weitgehend entkleidet wurden. Jedenfalls sind die Posen, die diese Frauen einnehmen, deutlich ergiebiger als das, was der junge Künstler an offiziellen Vorbildern etwa aus der Ermitage kennt, zum Beispiel die Danae von Tizian.
Während anfänglich Zeichnungen mit Variationen einer Darstellung innerhalb eines selben Blattes dominieren, werden allmählich die verschiedenen Figuren miteinander in Beziehung gesetzt und auch deutlich ihren Vorbildern zugeordnet, indem sie Namen erhalten. Man kann die einzelnen Zeichnungen mit einer gewissen Berechtigung als Genreszenen bezeichnen, denn sie spielen sich in einer alltäglichen Umgebung ab, nämlich den vom Künstler sparsam zitierten Wohnungsinterieurs. Für das ganze Album bleibt diese räumliche Situation bestimmend: der private Raum in der eigenen Wohnung (und nicht etwa in der oben beschreibenen Kommunalwohnung), allerdings gewinnen die Szenen zunehmend an Dynamik.

1968

Recht bald, ab 1968, entwickelt sich eine bildhafte Erzähltechnik, die sich über mehrere Blätter erstreckt. Hier ist höchst reizvoll zu sehen, wie der Künstler Partien, die ihm nicht gelungen scheinen, wieder aus dem Bild tilgt. Da er grundsätzlich mit Tusche oder anderen Materialen arbeitet, die sich nicht löschen lassen, und auf Vorzeichnungen aus Bleistift verzichtet, ist jede Linie eine bleibende, und was ihm nicht gefällt, wird durch Schraffur als Mangel gekennzeichnet, bleibt aber weiterhin sichtbar. Übrigens wird dieser Mangel vom Betrachter keinesweg als solcher empfunden. Interessant ist auch die zum Teil peinlich genaue Datierung der Zeichnungen, zum Beispiel 5. November 1968, 18.47 Uhr, und dann darunter 19.10 Uhr. Offensichtlich waren noch einmal 23 Minuten Schöpfungsprozeß notwendig, um das Blatt ganz zum Abschluß zu bringen.




1969

1969 beginnt Evgenij Kozlov, zu den Zeichnungen Dialoge zu entwickeln, die er den Figuren zuordnet. Dazu erhält jede Figur auf dem Blatt eine Nummer, die dann entsprechend in die Dialoge eingebaut wird. Er sind zunächst ganz knappe Unterhaltungen, die mehr oder weniger den Ort der Begegnung charakterisieren oder auch Verabredungen betreffen. Auch Gegenstände werden durch Worte erläutert, wenn etwas nicht aus dem Bild heraus verständlich ist. So erhält ein Tonbandgerät den Zusatz "sehr laut". Auf einer anderen Zeichnung finden wir die Bezeichnung "rain" (in englischer Sprache), als Hinweis darauf, dass es draußen regnet, auf einem dritten die Bemerkung "vier Stunden später". Es handelt es sich somit um eine Vertiefung der dargestellten Situation, räumlich, zeitlich, atmosphärisch. Wichtig ist, dass auch später, als die Textmenge wächst, an erster Stelle die Zeichnungen stehen, und nicht etwa die Zeichnungen zu Illustrationen der Texte werden.

Ausschnitt


1970

Im selben Jahr (1969) tauchen die beiden Freundinnen Ira und Sveta auf, denen ein ganzer Zyklus gewidmet ist, und 1970 schließlich finden wir zum ersten Mal einen Jüngling auf den Zeichnungen, den die beiden Freundinnen besuchen, und den wir mit einem gewissen Recht als alter ego des Autors betrachten dürfen. Hier beginnt das Spiel der gegenseitigen Entdeckungen, bei denen sich ein Zug reiner Naivität und Arglosigkeit mit dem intuitiven Wissen um die Bedeutung der Spannung zwischen den beiden Geschlechtern verbindet, einer Bedeutung, die das Sexuelle übersteigt.
Die treibende Kraft sind jedenfalls die Mädchen, sie sind es, die erobern. Ihre vorgetäuschte Passivität, zum Beispiel beim Warten auf den entscheidenden Telefonanruf, ist Teil des Spiels, das sie inszenieren, zum Teil bewußt, zum Teil unbewußt. Sie sind es, die die Jungs ermutigen, den vorgeblich ersten Schritt zu tun, der in Wirklichkeit gar kein erster Schritt ist, sondern höchstens ein zweiter, vielleicht sogar ein dritter.

Ira und Sveta



Ihre Schüchternheit überwinden die Mädchen gemeinsam; immer gibt es unter den Freundinnen eine, die mehr wagt, die entschlossen ist, die die anderen überredet, mitzumachen, und interessant wird das ganze ja durch die Fülle der Weiblichkeit, durch das Spektrum, durch die vielen verschiedenen Persönlichkeiten, die in Bild und Text alle genau charakterisiert werden. Und die alle großen Charme und Reiz entfalten, denn es gibt hier keine Zweitrangigkeit. Hier findet man nicht den Star unter den Frauen, gegen den die anderen häßliche Entlein sind, denn jede ist für sich vollkommen. Es gibt hier nur die absolute Bewunderung dessen, was man selbst nicht ist, den Wunsch, in diese Welt einzutauchen, die man ganz und gar begehrt, in ihrem Mittelpunkt zu stehen, selbst begehrt zu werden.



1971

Ab 1971 erscheinen auf den Zeichnungen surreale Elemente in Form von Schatten, Pfeilen und Konturen, die den Bildern eine Dimension jenseits der augenfälligen Geschehnisse geben, etwas Psychodelisch-Phantastisches. Gleichzeitig rückt die reifere, sebstbewußte Frau in der Gestalt verschiedener Lehrerinnen in den Vordergrund, die zwar die blutjungen Freundinnen nicht verdrängt, sich aber als ernste Konkurrentin um die Gunst ihres attraktiven Liebhabers sieht. Sie weiß, was sie will, und vor allem weiß sie, was sie an ihm hat.





1972

Allmählich gewinnt der junge Künstler genügend Selbstvertrauen, um sich auch als Aktmaler erkennen zu geben. Ein Wochenzyklus von 1972 bittet an jedem Abend ein anderes Mädchen zum Modellsitzen -liegen -stehen ins heimische Zimmer, am Montag Rosa (17 Jahre), am Dienstag Svetlana (24), am Mittwoch Mila (15), am Donnerstag Olja (16), am Freitag Nastja (15), am Samstag Tatjana Viktorovna (35 ) und am Sonntag Elena Vladimirovna (38) mit Lenotschka (16). Auf der Donnerstagszeichnung sind die in den Bildrand hineinragenden Hände des Künstlers mit Papier und Stift zu sehen. Natürlich würde jede der Damen gerne sofort am nächsten Tag wieder kommen, doch das geht leider nicht! Die Tage sind ja verteilt! (Was er Künstler selbstverständlich für sich behält.) Und so werden sie alle auf "ihren" Tag in der darauffolgenden Woche vertröstet.

Donnerstag (Ausschnitt); aus der Serie "Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag."


1972/73

Auf den letzten Zeichnungen wird die Komplexität der Figurengruppen zunehmend größer (9 Personen und mehr), die begleitenden Texte werden immer länger. Tatsächlich variert aber immer nur die Anzahl der Mädchen, die im übrigen alle individuell erkennbar sind. Der Junge, sofern er überhaupt auf den Zeichnungen zu sehen ist, ist immer ein einziger und bleibt immer derselbe - der umschwärmte Liebling der Frauen. Und umschwärmt ist er nicht zuletzt wegen seiner besonderen künstlerischen Fähigkeiten.





Hier der Dialog einer der letzten Szenen aus dem Jahre 1973:

Die beiden Mädchen (3, 4) verabreden sich mit dem Jungen (1) am Telefon.
(4): Hör mal, wir kommen am Abend vorbei. (1): Wann? (4): So um sechs. (1): Nein, ich muß noch Physik und Chemie machen, und dann will ich zeichnen. (3): Liebster (drängt die Freundin vom Hörer weg ...) (4) (die Freundin drängt sie ebenfalls vom Hörer weg): Auf gar keinen Fall. Wir zeichnen zusammen. (1) Na gut, und wann? (4) Sagen wir um neun? (1) Alles klar (4) Also einverstanden? (1) Einverstanden (3, 4) Voller Vorfreude legen sie den Hörer auf und gießen sich aus der zweiten Flasche Champagner ein ....




Und nun bereden die beiden in aller Ausführlichkeit, wie sich sich beim Treffen präsentieren wollen:

(4) Soll ich mir den Unterrock anziehen? (3) Kannst Du (4) Welchen? (3) Vielleicht den rosanen (4) Mit den Spitzen? (3) Unbedingt (4) den einheimischen oder den französischen? (3) (Denkt nach) Lieber den französischen. (4) Meinst Du? (3) Ich denke schon (4) Aber er will es doch malen! (3) Stimmt ja, habe ich vergessen ...... dann lieber den einheimischen. Trinken wir? (4) klar .... besser den durchsichtigen (3) Ja sicher, den durchsichtigen. Den allerdurchsichtigsten!






So geht es weiter, nacheinander werden Strümpfe, Strumpfhalter, Büstenhalter, Slip, Perlenkette, Ohrklips und alles andere besprochen. Und alles wird mit äußerster Sorgfalt behandelt, man dreht und wendet sich, man rückt zurecht, man zweifelt, siehst es schön aus, lieber so oder besser so, und man versichert sich gegenseitig immer wieder, dass es ihm gefallen wird.

Der Taxifahrer, der die beiden Mädchen zum Treffen fährt, ist voller Neid auf den Glücklichen, der sie erwartet.


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