Timur Novikov

Тимур Новиков

by Ekaterina Andreeva

Text auf russisch >> Zurück zur Sammlung / Back to Collection 2x3m >>
Text in Russian >>
Timur Novikov Timur Novikov im Werk Evgenij Kozlovs (Auswahl)
"Timur zu Pferd / Timur on Horseback >>
Die Serie AR >>
"Portrait Timur Novikov" (1986) >>
"Portrait Timur Novikov mit Knochenarmen" / "Portrait of Timur Novikov with bony arms" >>


DAS LOB DER KLEINEN DINGE


Ekaterina Andreeva, 1997
Fotografien: Hannelore Fobo, 1996

Timur Novikov in seiner Wohnung

Als die Mitglieder der „Welt der Kunst“ ihre Karriere mit der ersten Ausgabe ihrer Zeitschrift begannen, waren sie von Schönheit in reichlichem Maße umgeben. Jedoch legten die jungen Künstler entschiedenen Wert darauf, zwischen ihrer Zeitschrift und den damals gültigen Beispielen des guten Tons eine Distanz zu schaffen. Die Akademie der bürgerlichen Periode des Dritten Imperiums liebten sie genausowenig wie die der Zweiten Republik, auch verspürten sie keine besondere Zuneigung zur beliebten Kunst des Jugendstils: Diagilev bemerkte einmal mit Abscheu, pass bloß auf, wenn du das Perpetuum Mobile aus Narzissen anschaust, sonst überwältigt es dich und beginnt, dich zu erwürgen. [1]

Timur Novikov © Hannelore Fobo

Als Timur Novikov der Allgemeinheit Ende der achtziger Jahre die ersten Werke des neuen russischen Klassizismus vorstellte, erinnerte sich hingegen kaum noch jemand an die Schönheit. Die Schönheit wurde für „nicht wesentlich und nicht existent“ gehalten und nahm eine Position am äußersten Rand ein.


Im einen und im anderen Fall bedurfte es der Anstrengung einer mutigen Geste, um dem künstlerischen Publikum Werke vorzulegen, die so deutlich von dem vorherrschenden Modegeschmack der Kunstwelt abwichen. Schon damals, am Ende des letzten Jahrhunderts, und auch heute, am Ende unseres eigenen Jahrhunderts, waren es einerseits der besondere Geschmack und andererseits das klare Bewußtsein davon, wie utopisch die Schönheit im Gebiet der Gegenwartskunst ist, welche die Bewegung der „Welt der Kunst“ wie auch die der Timurschen zum Wachsen brachten. Und manchmal geschieht es, dass das Utopische eines Unternehmens für dessen Lebensfähigkeit sorgt – oder auch, dass die Lebensnotwendigkeit, die sich für eine charismatische Persönlichkeit (Sergej Diagilev oder Timur Novikov) ergibt, aus der Fantasie eine Realität macht.

Timur Novikov

Beim Vergleich dieser künstlerischen Welten kommt man nicht darum herum, sich über ihre Ähnlichkeit zu wundern, wenn man nämlich bedenkt, dass es sich bei den Voraussetzungen für diese Ähnlichkeit im Grunde genommen um eine einzige handelt: die Stadt St. Petersburg, den Ort der Handlung. Dieser Ort ist bekanntermaßen ganz und gar utopisch. Die Petersburger Kultur kennzeichnete früher wie auch heute (jedenfalls bezüglich des Aspektes, den wir hier beschreiben) das Vorgefühl und die Erwartung einer bestimmten wunderbaren Begegnung, einer märchenhaften Erscheinung, welche in den Schrecken und ins Nichts zu stürzen droht, einer Erwartung, die die Zurückweisung einer Zielvorstellung oder zukunftsorientierten Handlung provoziert, und zwar zugunsten beliebiger Beschäftigungen, die es erlauben, sich die Zeit zu vertreiben. Unter derartige Beschäftigungen fallen das Leben in der Welt des Theaters und das Sammlungswesen.


Die Künstler der „Welt der Kunst“ standen der Museumskultur sowohl aufgrund ihrer Lebensumstände als auch durch die verschlungenen Wege ihrer Karrieren nahe. Man kann sagen, dass Konstantin Somov in der Ermitage aufwuchs; Alexander Benois und Sergej Diagilev wiederum organisierten die Ausstellung im Taurischen Palais in der Hoffnung, ein Museum historischer Kunst eröffnen zu können. Selbstverständlich gibt es ausreichend Beispiele, wie Künstler als Kulturträger die Schaffung von Museen initiierten. Zwischen Diagilev und Timur Novikov in seiner jetzigen Eigenschaft als Direktor des Museums „Neue Akademie der Schönen Künste“ und Gründer des Sammlungsbestandes der Gegenwartstendenzen im Russischen Museum (mit seiner Sammlung von Gemälden der 80er Jahre) steht zum Beispiel Kasimir Malevitch, Direktor des GINChUK ( = Staatliches Institut für künstlerische Kultur, Petrograd; Anm. der Übersetzerin). Uns interessieren hier aber die spezielleren persönlichen Sammlungen der „Weltkünstler“, die in engster Weise mit dem Schaffen dieser Künstler verbunden sind. Das, was sie für sich selbst sammelten – die berüchtigten Raritäten oder „Skurrilitäten“ (Porzellan, Lithografien mit Stadtansichten, „Tand und Federn“ (Somov), persönliche Gegenstände Puschkins ( Diagilev) – , sollte nicht in die Sammlung eines Kunstmuseums, sondern in eine Sammlung der Dinge des Alltagslebens eingehen. Die „Weltkünstler“ benutzten ganz bewußt den Begriff „Alltag“; für uns klingt er schon zu sowjetisch, man sollte sich aber an folgenden Satz erinnern: „Du liebst das Alltägliche, das Vertraute, die Ästhetik der Geschichte“ (Benois zu Somov); „ich ... besuchte Adelspaläste, die in merkwürdiger Weise bewohnt wurden von lieben, durchschnittlichen Menschen von heute, welche nicht die Last der früheren Festlichkeiten aushalten, und wo nicht Menschen ihre Zeit verleben, sondern wo alte Lebensweisen ihre Zeit zu Ende leben (Diagilev in seiner Rede beim Bankett anläßlich der Eröffnung im Taurischen Palais).

Timur Novikov

Diese einzelnen Dinge des Alltags, von ihren Besitzern vergessen, der „goldene Staub unseres Lebens“, wie es in einem Brief hieß, der wohl aus dem 18. Jahrhundert stammt und den Baron Nikolai Wrangel in seinen „Alten Jahren“ zitierte, spielen nun im künstlerischen Umsatz eine höchst bedeutende Rolle. Das Zusammentragen von Sammlungen und ihre Investition in die Kunst als „belebtes“ Material verwandelt die künstlerische Praxis gewissermaßen in einen Tauschvorgang, der in einem Antiquitätenladen stattfindet. Der neue russische Klassizismus Timur Novikovs aber unterscheidet sich durch seine ganz besondere, vollkommen bewußte „Souvenirbezogenheit“, welche jener der „Welt der Kunst“ nahe steht. Indem der Künstler Bildpostkarten mit vergessenen Opernsängern oder Tänzern zur Schau stellt, die auf samtene „Vorhänge“ genäht sind, schickt er diese Helden auf neue Reisen. Dafür hat er ihren Weg mit seinen Erzählungen ausgeschmückt, so wie einst Somov in die Welt der „Marquisen“ alle möglichen kleinen Dinge hineingebracht hatte, die er in den verfallen Ecken St. Petersburgs, in kleinen Buden gefunden hatte, und die in der verwandten slawischen Sprache treffend als „Althergebrachtes“ bezeichnet werden. Die Künstler verwenden in ihren Werken „halbedle“ Dinge, die in größeren Auflagen hergestellt wurden. Sie korrigieren damit gleichsam deren Schicksal, welches damals nicht die Daseinsfülle eines Meisterwerke erschöpft, nicht das anerkannte Territorium der Schönheit erreicht hat, sondern im Vorgelände stehengeblieben war, wo sich die kurzlebigen Surrogate der Schönheit ansammeln und allmählich verfallen.

Timur Novikov

„Das Alltägliche, das Vertraute, die Ästhetik der Geschichte“ sind die Worte, die diesen Typ ästhetischer Empfindsamkeit beschreiben, welcher viel später erst, in den 60er Jahren, in einem Aufsatz der amerikanischen Schriftstellerin Susan Sontag die Bezeichnung „Camp“ erhielt. „Camp ist eine Art von Liebe zur menschlichen Natur“ bemerkte Sontag, die ihre Untersuchung Oscar Wilde widmete. Camp ist die ganz und gar ästhetische Wahrnehmung der Welt, im höchsten Maße künstlich, inszeniert und aufmerksam gegenüber Texturen und der Sinnlichkeit von Oberflächen. „Camp“ ist eine ästhetische und utopische Konstruktion, welche durch einen einheitlichen persönlichen Willen errichtet wird. Für den ideologischen Blick ist es eine ironische und nichtengagierte Kunst. „Camp“ gibt eine Antwort auf die Frage, „Wie man im Zeitalter der Massenkultur ein Dandy sein kann“ und aufmerksam gegenüber allem „démodé“ (aus der Mode gekommenen), da ja das nicht–mehr–zeitgemäß–Sein im Hinblick auf die Mode die Dinge aus der Macht der Banalität befreit.

Timur Novikov

Die aus den halb märchenhaften, halb anekdotischen persönlichen Geschichten herausgeführte dandyhafte Schönheit ist die Ursache von Meisterwerken wie Dobuschinkis Illustrationen zu „Eugen Onegin“, Somovs Porzellanstatuetten oder Timur Novikovs Fotomontagen mit dem Titel „Die Abenteuer Oscar Wildes“. Jedoch zeigt sich, dass man sie nach Ablauf einiger Jahre der Glorifizierung allmählich als ungenügend empfindet, und dass die Kunst, die von ihr inspiriert wurde, nicht ganz vollkommen ist. „Wir sind soweit herabgesunken, dass wir ganz einfach die Hymne vergessen haben“ schrieb Alexander Benois, „ wir wollen alles „häuslich“ einrichten, was eine Folge der tief in uns verwurzelten Skepsis ist. „Häuslich“ heißt mit einer selbstironischen Note, mit einem Auflachen ... Es ist bequem, sich hinter dem doppeldeutigen Lächeln des „für alle Fälle“ zu verstecken. Aber diese Zweiteilung ist zutiefst sündhaft ... Es ist an der Zeit, über die Ironie hinauszuwachsen ... Man muss glauben und beten. Und wie sollte man anders glaube?? a?? indem man in seiner Seele die ganze Gestalt desjenigen entstehen läßt, der vom ersten Tag der Schöpfung an den heiligen Reigen der Schönheit anführt?“


Mit diesem Aufruf, der zugleich eine Selbstanalyse ist, und der unter dem Titel „In Erwartung der Hymne an Apoll“ verkündet wurde, wurde die erste Nummer des Journals eröffnet, welches die russischen Ästheten dem antiken Beschützer der Künste widmeten. Die Schönheit, von der Benois schrieb, ist kein Ritual „einer Verneigung vor schönen und toten Dingen“, sondern die Kraft der geistigen Umgestaltung des Lebens durch die Schönheit. Der Schönheitsbegriff ist in diesem Text längst kein griechisch-antiker mehr, ungeachtet des Bezugs auf Hellas. Er ist durch die langwährende Erfahrung der geistigen Suche Europas transformiert worden. Die innere Logik der Entwicklung des neuen russischen Klassizismus besitzt damit eine gewisse Ähnlichkeit: das von Timur Novikov inspirierte Projekt Denis Egelskijs „Das ideale Bild“ schlägt eine Untersuchung der proportionalen Wechselbeziehungen in der Ikonenmalerei vor und ihre Übertragung in grafische Portraits ätherischer Jünglinge und Jungfrauen. Auch die Autoren des „Apollon“ haben sich ja einst auf der Suche nach dem Schönen des zinnoberfarbenen Schimmers der byzantinischen Mosaiken bedient. Sie waren inspiriert durch den nietzscheanischen Traum: „Dort (in der italienischen Renaissance – Anmerkung E. K.) sind die Abgötter wiedererstanden, als Abbilder, Formen; hier müssen die Himmelsbewohner selbst wiedererstehen.“ Für die übersättigte Empfindsamkeit des Jugendstils waren die asketischen Farben der Mosaiken das beste Stimulans, und wahrscheinlich geschah das in der Antike im Bewußtsein der kenntnisreichen Griechen in ähnlicher Weise.

Timur Novikov

Nach Sontags Auffassung war das Abstumpfen der Wahrnehmung einer der wesentlichen Gründe für die Entstehung der zeitgenössischen Formen künstlerischer Sensibilität: des Camp wie auch des Modernismus. In unserer Zeit strebt die ästhetische Suche nach einer Form, welche das Aufreizen mit einem gleichzeitigen Betäuben vereinigt. Die Schönheit ist auf eine gewisse Weise die stärkste Form der Betäubung, indem sie den Schmerz hinwegnimmt und die Spannung des Gefühls erhält. Doch die camp-artige Schönheit erweist sich aufgrund ihres ausgesprochen persönlichen Charakters als ungenügend, sie neigt sich zu sehr „der Erde entgegen“ [2]. Die schöpferische Praxis Diagilevs, des wichtigsten Künstlers aus der „Welt der Kunst“, zeigt, auf welche Weise es auch unter der Gewalt von Zweifeln und Vorahnungen, von denen Benois [3] schrieb, gelingen konnte, stets auf der sonnigen, das heißt unpersönlichen, vollkommenen Seite zu verbleiben. Diagilev, den Benois nach 1914 den „Paladin des modernistischen Unsinns“ nannte, unterschied sich von seinen Künstlerfreunden aus der „Welt der Kunst“ und generell von seinen uns heute bekannten Zeitgenossen durch eine staunenswerte Eigenschaft. Alles, womit er sich befaßte, wurde zur Kunst, und von Bakst bis Picasso, von den russisch-und-finnländischen Künstlern bis zur Portrait-Malerei des 18. Jahrhunderts war alles schön.


Auf den ersten Blick war Diagilev wohl ganz und gar eine Camp-Persönlichkeit, doch konnte er mit seinem grenzenlosen Interesse an der Kunst die Schranken dieser Art von Wahrnehmung überwinden. Bei seiner Suche nach dem Schönen blieb er nirgends stehen und schränkte sich durch keinerlei Modelle ein: weder die populäre historische Malerei noch das Erhabene wurden bei ihm zum Maßstab, zu ästhetischen Heiligtümern. Die Schönheit flog wie eine Nike neben ihm her und entsprach seiner Fähigkeit, sich ständig zu verändern, immer und immer wieder eine neue lebendige Form anzunehmen, vergleichbar damit, wie das Klassische in der Philosophie mit der Leere in Verbindung gebracht wurde, die fähig ist, sich einen immer neuen Sinn anzueignen. Wenn man Diagilevs Erfahrung verallgemeinert, so kann man sagen, dass die Schönheit der Grund seines Vertrauens zum Leben war. Zu einem Leben, welches er im Unterschied zu Somov oder Benois nicht aus den Tiefen der Vergangenheit oder der beginnenden Zukunft extrapolierte, sondern welches er unter seinen eigenen Füßen aufzuspüren wußte.


Solchermaßen universelle Triebe finden wir auch in Timur Novikovs Handeln. Seinen Anhängern zeigt er nichts anderes als die Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten. Die Neue Akademie aber wirkt nicht nur als Galerie für zeitgenössische Kunst, sondern auch als kleines heimisches magisches Theater, in dem ein jeder Mitwirkender im Spiel mit „idealen Abbildern“ werden kann, wo man ein Pasticcio im Geist von Alma-Tadema zeigt, wo man die Oper „Mireille“ mit einem elektronischen Bühnenbild sehen kann, wo archaische „Nächte der Poesie“ stattfinden und wo schließlich, wie in jedem aktiv genutzten Kunsttempel, der Geist des Begründers anwesend ist und auch seine Bronzebüste mit Edelsteineinlagen.

Timur Novikov

Ekaterina Andreeva, November 1997

Übersetzung: Hannelore Fobo, 2008


[1]

Es wäre natürlich nicht richtig, die „Welt der Kunst“ aus der Kultur des Jugendstils herauszunehmen, aus der Aufzählung von Zeitschriften wie „Jugend“ oder „Ver Sacrum“. Man darf allerdings auch nicht außer Acht lassen, das die „Weltkünstler“ nachdrücklich darauf verzichteten, dem Schönheitsmaßstab des Jugendstils zu folgen, wobei sie nur bei Beardsley und Elena Polenova eine Ausnahme machten.

[2]

Die Suche nach der unpersönlichen Schönheit als Schmerzmittel hat sich nun in aller Deutlichkeit in der Kunst der Video-Clips manifestiert, zu welcher die Computer-Künstler der Neuen Akademie tendieren.

[3]

Es ist interessant festzustellen, dass sich Diagilevs Rede beim Bankett anläßlich der „Taurischen Ausstellung“ und das Manifest von Benois „In Erwartung der Hymne an Apoll“ fast wortwörtlich gleichen. Mit dem Aufruf zum neuen Schönen geht das Vorgefühl einher, das dieses Schöne im selben Zug die Welt dieser Künstler vernichten würde.

Timur Novikov

nach oben