Evgenij Kozlov - Евгений Козлов

Анна Каренина 2 / Anna Karenina 2

Öl, grundierter Stoff / масло, грунтованная ткань, 215 x 149 cm , 1988

"Neues Theater"
Anna Karenina

„Новый театр“
Анна Каренина

Анна Каренина 2 / Anna Karenina 2



Einige einführende Bemerkungen zu "Anna Karenina 2" können in der Beschreibung von "Anna Karenina 1" >> nachgelesen werden. Dies betrifft die Gestaltung der Leinwand und ihre Bedeutung als Bildrahmen (Bildfenster). Ebenso ist die generelle Beschreibung des künstlerischen Prozesses von der Fotografie über die übermalte Fotografie zum Gemälde gültig, insbesondere, was die technischen Aspekte bei der Übermalung der Fotografie betrifft.

Darüberhinaus haben die beiden Gemälde nicht nur gemeinsame Wurzeln in der Fotoserie "Anna Karenina", aus dem sich der Untertitel der Werke erklärt. Vor allem sind sie in der Art und Weise ihrer Transformation vergleichbar, nämlich in der Schaffung eines die Figuren umgebenden kosmischen Raums. Die strahlende Farbigkeit, die Dynamik der Perspektive, die komplexe Interaktion von Figuren und Raum, das In-Einander-Übergehen von malerisch gestalteten Farbflächen, abstrakt-graphischen Elementen und realistisch wirkenden Bildpartien - all macht das Gemälde absolut innovativ und den Künstler unverwechselbar. Dies sind die herausragenden technischen Mittel, die Evgenij Kozlov für die Materialisierung seiner künstlerischen Empfindungen nutzt, in deren Zentrum der Mensch mit seinen geistigen Eigenschaften und Verbindungen steht.

Verfolgen wir den Weg von der Fotografie zum Gemälde.

Das Hochformat der Fotografie bestimmt hier die Proportionen des Gemäldes, und sein Kompositionsdreieck mit den drei Hauptfiguren - links Vladislav Gutsevich, in der Mitte Sergei Bugaev, rechts Rodion Zavernyaev - wird zur Gänze in das Gemälde übernommen. Ein Blick auf die übermalte Fotografie zeigt uns, welche Bereiche sich durch die Übermalung verändern. In der Hauptsache sind dies zwei: zum einen verschwindet die Figur mit dem angewinkelten Arm, um eine Art Schatten oder Doppelgänger hinter Sergej Bugaev zu bilden, zum anderen wird das Metallgestänge auf dem Fußboden deutlich hervorgehoben. Dieses Gestänge (genaugenommen sind es zwei, die übereinander angeordnet sind) wird aufgrund seiner ästhetischen Eigenschaften zu einer wichtigen Komponente in beiden Anna-Karenina-Gemälden. Die Anordnung der sich überlagernden Streben, die ganz unterschiedliche Winkel bilden, gibt ihr den Charakter einer in verschiedene Ebenen hineingreifenden Leiter, die trotz ihrer Leichtigkeit den Figuren der Komposition Halt in der Atmosphäre des Kosmos bietet.

Im Schritt von der übermalten Fotografie zum Gemälde wird der ursprüngliche Hintergrund vollig weggenommen, aber auch der Fußboden. Der Blick des Betrachter richtet sich weiterhin nach schräg oben auf die Figurengruppe, in deren Zentrum Sergei Bugaev steht, doch bietet sich ihm jetzt ein gewaltiges Panorama.

Weit unterhalb der Figuren sieht man die Erde - eine winterliche Landschaft mit Häusern - darüber das leuchtend dunkle Blau des Himmels und ganz oben eine futuristische Rakete, deren Spitze in die Tiefe des Weltalls zeigt.

Die Tiefenwirkung dieses Panoramas ist so intensiv, und der Kontrast zu den schwerelos schwebenden Figuren im Vordergrund so markant, dass den Betrachter das Gefühl befällt, könnte er sich ins Bild begeben, würde er entweder abstürzen oder in die in die Weite des Weltraums eingesogen. Die drei Figuren unterliegen jedoch weder der Schwerkraft noch der Fliehkraft. Sie haben diese irdischen Merkmale nicht. Betrachten wir einmal eingehender ihr Verhältnis zueinander.

Eine unmittelbare Feststellung ist ihre Anordnung zu einem Dreeick mit der Spitze nach oben.

In der Kunstgeschichte werden Dreiecks- (pyramidische) Konstruktionen zum ersten Mal in der Renaissance verwendet. Sie betonen das Prinzip von Haupt- und Nebenfiguren. So sind etwa in Raffaels "Sixtinischer Madonna" die Figuren links und rechts der Madonna ihr ganz offensichtlich untergeordnet. Im Barock kommt dazu die Dynamik mit diagonalen Bewegungen, so wie auch hier die Achse der Pyramide gekippt ist. Diese Periode behält weiterhin das Schema der zentralen Figur bei. Die moderne Kunst führt die gebogene Perspektive ein, die Idee der Parallelen, die sich im Unendlichen schneiden. Evgenij Kozlov setzt frei die Techniken aller Kunstperioden ein, doch schöpft er ein wesentliches neues Element.

Der Kopf der Figur links im Bild hat eine leichte Drehung nach rechts erhalten. Ihr Bein ist verschwunden. Damit hebt Evgenij Kozlov den gemeinsamen Brennpunkt der Figurengruppe auf. Das Statische der Komposition wird aufgelöst. Das Dreeick verändert sein Lage. Es ist nicht nur einfach zur Seite gekippt, es kippt nach hinten, mit anderen Worten, die Spitze zeigt vom Betrachter weg. Jede Figur scheint nun entlang ihrer eigenen Achse zu schweben: horizontal, diagonal, vertikal. Indem jede ihren eigenständigen Ort im Raum erhält, gewinnt sie Stärke und Unabhängigkeit. Dadurch entsteht eine Gleichwertigkeit der Figuren, und jede einzelne entfaltet ihre volle Bedeutung. Sie erhalten neue Attribute, zum Beispiel Gutsevitch links einen goldenen Punkt auf dem Armgelenk, einen reichen gefalteten Kragen, Bugaev in der Mitte eine Weltkugel und Sandalen, durch die die Zehen blitzen, Zavernyaev rechts wird vollständig in einen Umhang eingebettet. Der ganze Reichtum dieser Gestaltung erschließt sich erst, wenn man dem Gemälde unmittelbar gegenübersteht, denn die Ausarbeitung erfolgte bis in winzige Details, die sich bei einer groben Bildschirmauflösung nicht erkennen lassen.

Die Verbindung der Figuren miteinander ist hier sehr viel subtiler als auf der ursprünglichen Fotografie. Sie wird nicht durch eine gemeinsame Tätigkeit bestimmt. Es ist ein transparentes Netz aus schwarzen Linien, Punkten und Dornen, das sie vom Hintergrund trennt. Das Netz hat eine ähnliche Funktion wie das Gitter von "Anna Karenina 1", nur dass es direkt an den Schattenlinien des Körpers ansetzt. In dieses Netz ist auch die Leiter integriert, die die Verbindung zur Erde schafft.

Es gibt eine weiteres Element, das einen sehr irdischen Charakter hat: die schlichte Tischlampe in der oberen rechten Ecke. Sie war Teil der Möblierung des Zimmers, in dem das Gemälde entstand. Mit ihr hat der Künstler das Werk vollendet. Sie beleuchtet die Szene von hinten, und die schwarzen Blitze, die von ihr wegwehen, sind vermutlich nach dem Vorbild der Schraffur gemalt, die beim Einkratzen in die feuchte Emulsion eines schwarz-weiß Negativs entsteht - eine Technik, die Evgenij Kozlov sehr häufig verwendet hat. Auch die rote Aura erhält eine solche Schraffur, die wie eine Kalligraphie wirkt, um im Grunde genommen finden sämtliche Elemente des "Netzes" in dieser Kratztechnik ihre Vorläufer.

In der vorliegenden Beschreibung wurde in erster Linie auf perspektivische Elemente der Komposition eingegangen. Natürlich entfaltet das Gemälde seine Wirkung nicht allein daraus. Die Gestaltung des Gesichtsausdrucks und hierbei des Blicks, die Wahl der Farben sind ganz wesentlich für die Stimmung, die es erzeugt, ganz zu schweigen von den enorm komplizierten und durchdachten Übergängen zwischen den einzelnen Partien des Bildes. Wenn man aber mit dem Aufbau beginnt, findet man den Zugang, der es erlaubt, die Fülle der gleichzeitg empfangenen Eindrücke zu ordnen.

Worauf hier weitgehend verzichtet wurde, ist eine Interpretation des Gemäldes im Sinne einer Bedeutungszuordnung zu einzelnen Teilen oder zum Gesamtbild. Soviel ist klar: dass diese Szene sich abseits irdischer Bedingungen abspielt und dass hier andere Gesetze herrschen als die, die man von der Fotografie kennt. Andererseits sind doch genügend vertraute Objekte zu sehen, zum Beispiel die Häuser in der Winterlandschaft, und auch die Figuren als solche sind uns nicht wirklich fremd.

Daher haben wir die Hoffnung, dass einiges an Wissen über den "Werdegang" des Gemäldes, welches sich aus einem Vergleich mit der Fotografie und der übermalten Fotografie ergibt, dem Betrachter beim Einstieg in eine eigenständige Interpretation hilft. Dazu muß er sich im klaren darüber sein, dass Evgenij Kozlov sämtliche Aspekte seiner Werke einem kritischen Blick unterwirft und, wenn er nicht zufrieden ist, ohne Skrupel Änderungen vornimmt. Mit anderen Worten: was wir sehen, ist gewollt, und wir dürfen jedes Element des Bildes für die Gesamtkompostion als notwendig betrachten.

Der Schlüssel zum Verständnis liegt darin, die Figuren der Kompostion weder als Abbilder (Portraits) der realer Personen aufzufassen, was der Bezug auf die Fotografien nahelegen würde, noch sie als Symbole für eine Aussage, einen Position des Künstlers zu halten. Evgenij Kozlov nutzt die Figuren nicht als Vorwand, um damit etwas darzustellen, sondern entwickelt die Figuren zu einer Vollkommenheit, die in der Realität nur als Potential vorhanden ist. Diese Vollkommenheit ist gleichwohl eine individuelle, sie folgt nicht einer abstrakten Idee eines "Vollkommenen", sondern bildet sich am Individuum aus. Daher die Lebendigkeit dieser Schöpfung, die auf alles Formelhafte verzichten kann, wie sie in Werken vorkommt, die mit der Idee nicht die Wirklichkeit befruchten können.

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